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Kahlschlag im deutschen Tarifdschungel? – Das Deutschlandticket und seine Auswirkungen auf die Tarifstrukturen der Verkehrsverbünde

Die Einführung des Deutschlandtickets hat signifikante Folgen für die Tariflandschaft deutscher Verbünde. In mehreren Kundenprojekten sind wir damit beauftragt, die zu erwartenden Wanderungseffekte im Tarifsortiment zu quantifizieren, die Folgen für das bestehende Sortiment des Zeitkarten- und Gelegenheitstarifs zu ermitteln sowie die Auswirkungen möglicher Anpassungen in Sortiment und Tarifniveau zu modellieren. In diesem Beitrag analysieren wir die Wechselwahrscheinlichkeit von heutigen Abo-Kund:innen in über 120 Städten aus 47 Verbünden. Soviel sei vorweggenommen: Es ist mitnichten so, dass sich pauschal für alle Kund:innen ein Wechsel in das Deutschlandticket lohnt.

Datengrundlage und Methodik

Auf Basis unserer flächendeckenden Tarifdatenbank ist es möglich, den voraussichtlichen Umfang der Abwanderung bestehender Kund:innen in das Deutschlandticket bundesweit abzuschätzen – abhängig von den heute bestehenden lokalen Tarifen. Mit entsprechenden Vertriebsdaten lassen sich daraus potenzielle Nachfrage- und Erlöseffekte für Verbünde und Verkehrsunternehmen quantifizieren. In diesem Beitrag möchten wir einen (stark vereinfachten) Einblick in die analytischen Möglichkeiten am Beispiel eines regulären stadtweiten Abonnements geben. Vergleichbare Daten liegen uns darüber hinaus für zahlreiche weitere Tarifprodukte sowie für alle Preisstufen der dargestellten Städte und Verbünde vor.

In der angeführten Darstellung sind die Preise für ein reguläres stadtweites Abonnement für 127 Städte aus 47 Verbünden abgebildet. In diesen Städten leben rund 36 Prozent aller Einwohner:innen bzw. ÖPNV-Kund:innen Deutschlands. Zusätzlich zum nominalen Kaufpreis (gesamte Säule) haben wir eine spezielle Leistungsbereinigung der Preise vorgenommen. Dabei wird der in der bestehenden Zeitkarte enthaltene Zusatznutzen für die Fahrgäste mit Hilfe eines bewährten Verfahrens quantifiziert und monetär bewertet. Dieser Zusatznutzen ergibt sich zum Beispiel aus der kostenfreien Weitergabe des Abonnements an Dritte (Übertragbarkeit) oder aus der kostenfreien Mitnahme von Erwachsenen und Kindern zu bestimmten Zeiten.

Für jede Stadt ermitteln wir anhand der lokalen Ausprägungen des Tarifsystems sowie teils spezifischen, teils pauschalen Annahmen den mittleren Wert dieses Zusatznutzens in Euro. In der Realität fächert sich dieser Mittelwert weiter auf: Manche Kund:innen nutzen Zusatzleistungen überhaupt nicht, andere nehmen sie intensiv in Anspruch. Genau diese Zusatzleistungen werden allerdings im Deutschlandticket nicht mehr enthalten sein – an ihre Stelle tritt dafür der Nutzen einer bundesweiten Gültigkeit und der Komforteffekt durch die deutliche Vereinfachung des Tarifsystems. Auch diese (im Verhältnis zu den aktuellen Tarifen zusätzliche) Leistung des Deutschlandtickets wird von einigen Kund:innen (nahezu) gar nicht, von anderen dagegen intensiv nachgefragt werden.

Gruppierung der Kund:innen anhand der Wechselwahrscheinlichkeit zum Deutschlandticket

Es ergeben sich drei Gruppen von Kund:innen bzw. Zeitkarten, die sich in der Wahrscheinlichkeit für einen Wechsel in das Deutschlandticket oder für die Beibehaltung des Bestandsproduktes unterscheiden.

Die Gruppe der Tickets bzw. Kund:innen mit einer sehr hohen Wechselwahrscheinlichkeit umfasst Zeitkarten mit hohen Preisen, teilweise sogar ohne nennenswerte Zusatzleistungen. Der Preis dieser Zeitkarten ist so hoch, dass selbst eine überdurchschnittlich intensive Nutzung der inkludierten Zusatzleistungen zu einem leistungsbereinigten Preis deutlich oberhalb des Deutschlandtickets führt. Für diese Gruppe ist ein nahezu vollständiger Wechsel in das Deutschlandticket zu erwarten (rote Säulen).

Auf der anderen Seite sind Zeitkartenprodukte mit geringeren Preisen einzuordnen (grüne Säulen). Selbst ohne Einbeziehung möglicher Zusatzleistungen liegen diese Zeitkarten deutlich unter dem Preis des Deutschlandtickets. Für diese Gruppe bleibt auch mit der Einführung des Deutschlandtickets die bisherige Zeitkarte oft das bevorzugte Tarifprodukt, solange keine signifikanten Mobilitätsbedürfnisse außerhalb des Geltungsbereichs der bisherigen Zeitkarte bestehen.

Für die dritte Gruppe lässt sich die Frage nach einem Wechsel in das Deutschlandticket oder dem Verbleib in der bestehenden Zeitkarte nur bedingt auf den ersten Blick beantworten (orange Säulen): Zwar liegt der Nominalpreis über 49 Euro, aber die gebotenen Zusatzleistungen können bei realistischer Nutzungshäufigkeit einen Verbleib im Bestandsprodukt sinnvoll machen, solange keine intensive Nutzung der bundesweiten Gültigkeit des Deutschlandtickets erfolgt. Kund:innen von Zeitkarten in diesem Preisbereich werden ihr Nutzungsverhalten genau prüfen, um entscheiden zu können, ob ein Verbleib im Bestandsprodukt oder ein Wechsel zum Deutschlandticket für sie ökonomisch sinnvoller ist.

Anteil der Tickets bzw. Kund:innen, die im Bestandstarif verbleiben

Für den Zusatznutzen der betrachteten Zeitkarten und die bundesweite Gültigkeit des Deutschlandtickets haben wir eine Verteilung der Nutzungswahrscheinlichkeiten zwischen „gar keine Nutzung“ und „sehr intensive Nutzung“ modelliert. Durch eine Verknüpfung mit den modellierten Preisen für jede Nutzung der Zusatzleistungen ergeben sich zwei Verteilungen, die miteinander verschnitten werden. Mathematisches Ergebnis dieser Verschneidung ist der Anteil der Nutzer:innen, der ökonomisch rational in das Deutschlandticket wandert beziehungsweise im Bestandsprodukt verbleibt. „Stellschrauben“ sind hier der Preis der Bestandszeitkarte und die inkludierten Zusatzleistungen. Die graue Linie und die rechte Y-Achse markieren den Anteil an Tickets bzw. Kund:innen, die nach unserer Modellierung im heutigen Tarifprodukt verbleiben und nicht ins Deutschlandticket abwandern.

Zu erwarten ist allerdings durchaus, dass die theoretische Chance einer großen Ersparnis durch das Deutschlandticket – „aber wenn ich einmal mit dem Nahverkehr quer durchs Land fahre …“ – in vielen Fällen die kleinen Gewinne der Zusatzleistungen des Bestandsproduktes – „heute konnte meine Tochter umsonst mitfahren“ – überstrahlt und Kund:innen veranlasst, gegen die ökonomische Rationalität doch das Deutschlandticket zu kaufen. Wäre das anders, würde auch niemand Lotto spielen.

Ausblick

Die beschriebene Modellierung der Wechselwahrscheinlichkeit von Kund:innen und des Anteils des Bestandsabonnements, der nicht ins Deutschlandticket wechselt, liefert eine Grundlage für die umfassende Ermittlung von Erlöseffekten, die aus der Einführung des Deutschlandtickets resultieren. Darüber hinaus können auf dieser Grundlage strategische und konzeptionelle Entscheidungen für die Ausgestaltung des künftigen Tarifsortiments getroffen werden.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine stark vereinfachte Beschreibung unserer Modellierung anhand eines einzelnen Tarifprodukts des Zeitkartentarifs in einer einzelnen Preisstufe (gesamtes Stadtgebiet). In der Realität unserer Projekte sind die Modellierungen aufgrund der Vielfalt der Tarifprodukte und der Bandbreite des Kundenverhaltens deutlich komplexer.

Für die Produkte des Gelegenheitstarifs haben wir ein ähnliches Entscheidungsmodell entwickelt. Für einen individuellen Austausch zu Ihrer Stadt und Ihrem Verbund sprechen Sie uns gerne an.