Direkt zum Inhalt

Zurück zur Übersicht

Tarifwende ist nicht gleich Verkehrswende – Interview mit Friedemann Brockmeyer

Im Interview erläutert Friedemann Brockmeyer, Senior Projektleiter bei civity die Hintergründe der matters no. 2. Neben Informationen zur Analyse sowie dem Ziel der Studie, erläutert er, die sich aus der Studie ergebenden wichtigen Erkenntnisse sowie mögliche Maßnahmen für deutsche Städte.

  • Wie kam civity auf die Idee, den „Wiener Weg“ genauer zu untersuchen?

Wir waren ja von Anfang an in den Prozess involviert und haben schon damals betont, dass Wien über ein hervorragendes ÖPNV-Angebot verfügt, das in puncto Dichte und Umfang in Europa seinesgleichen sucht. Aber wir waren uns auch sicher, dass der Preis mit damals 449,-€ für die Jahreskarte dabei nicht ausschlaggebend sein kann.

  • Was war das Ziel der aktuellen matters-Studie?

Unser Ziel war und ist es, den „Wiener Weg“ ganzheitlich darzustellen und so der in der deutschen Öffentlichkeit oft anzutreffenden unzulässigen Verkürzung auf die 365-Euro-Jahreskarte entgegenzuwirken. Wien steht für ein hervorragendes Angebot und ist auch führend in der Verknüpfung von öffentlich nutzbarer Mobilität, z. B. mit Wien Mobil. Wien zeigt aber auch, dass mit einer Tarifwende noch lange keine Verkehrswende ermöglicht wird.

  • Wie sind Sie bei der Analyse vorgegangen?

Ganz klassisch, wie wir es in unseren Analysen immer tun. Wir haben uns die drei Layer des urbanen Mobilitätsökosystems angeschaut: Stadtstruktur, Transportinfrastruktur und die Verkehrspolitik, die gemeinsam letztendlich das Mobilitätsverhalten der Wienerinnen und Wiener bestimmen. Alle Ebenen bedingen sich gegenseitig und sind in Wien außerordentlich ÖPNV-affin!

  • Was waren die wichtigsten Erkenntnisse?

Vor allem, dass der ÖV in Wien schon seit mehreren Dekaden absolute Priorität bei den Wienerinnen und Wienern, der Politik und damit auch im öffentlichen Haushalt besitzt. Der Siegeszug des Wiener ÖV begann ungefähr ein Jahrzehnt vor der Einführung der 365-Euro-Jahreskarte. Seit der Einführung aber hat der Wiener ÖV seinen Marktanteil eigentlich nur noch gehalten.

  • Welche Maßnahmen könnten deutschen Städten als Vorbild in der Verkehrspolitik dienen?

Aus Wien können deutsche Städte drei Dinge lernen.

  • Erstens, dass eine hohe Siedlungsdichte die Nutzung des öffentlichen Verkehrs befördert.
  • Zweitens, dass sich kontinuierliche Investitionen in ein hervorragendes Angebot lohnen.
  • Drittens, dass es für eine nachhaltige Verkehrswende einer systematischen Regulierung der privaten innerstädtischen PKW-Nutzung bedarf.

Deutsche Städte (insbesondere diejenigen mit starkem Bevölkerungswachstum) sollten sich darauf konzentrieren, dass die urbane Dichte weiter steigt und dass das ÖPNV-Angebot in den bereits dichten und den noch zu verdichteten Räumen stetig ausgebaut wird. Dies bedeutet vor allem bei etwaigen Flächenkonflikten zwischen ÖV und MIV, eine klare Priorität für den ÖV. „Halbgare Busspuren“, die nur dort existieren, wo eh genug Platz ist oder die auch noch als Ersatzradweg benutzt werden, sind dagegen nicht zielführend.

Deutsche Städte brauchen eine klare Priorisierung des ÖVs im Straßenraum und eine Regulierung der privaten PKW-Nutzung viel dringender als irgendwelche E-Bus-Experimente mit Hilfsdieseln für die Klimaanlage oder eine vergleichbare verkehrspolitische Symbolpolitik.

  • Gibt es eventuell auch Maßnahmen, die in Wien noch fehlen?

Weitere Marktanteilsgewinne für den ÖV sind in Wien nur mit sehr hohem Investitionsaufwand möglich. Mit dem neuen Linienkreuz U2/U5 etwa wird dies noch einmal erfolgen, da hier die Konnektivität mit der S-Bahn und damit mit dem Wiener Umland gestärkt wird. Genau hier liegen zurzeit auch die größten Herausforderungen in Wien. Grundsätzlich muss die Stadt nun den Fokus auf den Substanzerhalt legen, um langfristig den bestehenden hohen Marktanteil des ÖV halten zu können. Im Bereich der innerstädtischen Mobilität sind jetzt die anderen Verkehrsträger des Umweltverbunds an der Reihe. Das Fahrrad hat unter der 365-Euro-Jahreskarte eher gelitten.

  • Was macht die Mobilität einer Stadt nach Abschluss der Studie vor allem attraktiv?

Ein hohe räumliche Erschließung des Stadtgebiets durch möglichst schienengebundenen öffentlichen Verkehr mit hoher Intervalldichte. Plus langfristige und kontinuierliche Investitionen in die ÖPNV-Infrastruktur, die über die Kurzatmigkeit der deutschen Verkehrspolitik mit ihren Green-City-Plänen und oft fragwürdigen Tarifexperimenten hinausgehen, die mit drohenden Dieselfahrverboten begründet werden.