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Wie Tarifpopulismus und Mikromobilität den öffentlichen Verkehr beeinflussen

Im ersten Jahresrückblick beobachten Stefan Weigele und Tarik Shah dabei einen zunehmenden „Tarifpopulismus“ in der öffentlichen Diskussion um einen attraktiven ÖPNV. Außerdem wagen sie eine Prognose hinsichtlich der künftigen Entwicklung der New Mobility und insbesondere der vieldiskutierten E-Scooter in Deutschland.

Was waren aus eurer Sicht im ablaufenden Jahr die zentralen Themen im Bereich des öffentlichen Verkehrs?

Tarik Shah: 2019 ist „Klimaschutz“ endgültig zu einem dominierenden Thema auf der politischen Agenda geworden. Die Fridays-for-Future-Bewegung und das dadurch geschärfte öffentliche Bewusstsein haben ihren Beitrag dazu geleistet, dass auch die Bundesregierung nun ein paar Gänge zugelegt und mit dem Klimapaket erstmals eine ressortübergreifende langfristige Strategie verabschiedet hat. Die teils heftigen Reaktionen auf den zurecht als völlig unzureichend empfundenen Ehrgeiz der beschlossenen Maßnahmen zeigt bereits, dass das Thema 2020 noch an Brisanz und Dynamik zulegen dürfte. Gerade der Bereich Verkehr bleibt dabei absehbar das Sorgenkind bei der Klimawende.

Stefan Weigele: In diesem Umfeld lassen sich aktuell zwei Trends in der ÖPNV-Branche ausmachen: zum einen gibt es seitens der Politik erkennbar die Bereitschaft, deutlich mehr Fördermittel für Maßnahmen bereitzustellen, die (vermeintlich oder tatsächlich) zu einer Stärkung des ÖPNV beim Modal-Split beitragen sollen. Dadurch wächst allerdings auch der Einfluss von Politik und Aufgabenträgern auf Verkehrsverbünde und Verkehrsunternehmen, denn wer die Musik bezahlt, darf sie bekanntlich auch bestellen. Dieser Trend zeigt sich in vielen Verbünden bereits mehr oder weniger deutlich und dürfte sich auch 2020 fortsetzen.

Diesen Einfluss nun nutzen, zweitens, politische Entscheidungsträger verbreitet dazu, vermeintlich „einfache“ Tarifmaßnahmen wie 365-Euro-Jahreskarten oder gar eine kostenlose Nutzung des öffentlichen Verkehrs zu fordern. Dabei wird aber übersehen, dass solche tariflichen Maßnahmen gerade im Vergleich zu verstärkten Investitionen in die Qualität des Angebots nachweislich nur äußerst geringe Effekte für die Steigerung der Nachfrage haben. Zudem braucht es dringend abgestimmte, langfristige Konzepte für einen starken ÖPNV anstelle kurzfristiger punktueller Klimapiloten und Schnellschüsse.

Es zeigt sich zunehmend eine Art „Tarifpopulismus“ in der öffentlichen Debatte.

Da sich diese „einfachen“ Tarifmaßnahmen in der Öffentlichkeit allerdings gut als entschlossenes Handeln kommunizieren lassen, erfreut sich diese Art von „Tarifpopulismus“ aktuell großer Beliebtheit. Das wird sich sicherlich auch 2020 fortsetzen und ist eine große Herausforderung für die Branche, da jeder Euro an Fördermitteln eben nur einmal ausgegeben werden kann – entweder in Tarifmaßnahmen oder in die Stärkung des Angebots. Klar ist aber auch, dass pauschale Abwehrreflexe hier nicht weiterführen. Es geht vielmehr darum, mit den politischen Entscheidungsträgern in einen konstruktiven Dialog zu treten und den grundsätzlichen Bedeutungszuwachs des öffentlichen Verkehrs positiv zu nutzen.

Was kann civity zu dieser Debatte beisteuern?

Tarik Shah: Wir bemühen uns, die Debatte durch Aufbereitung faktischer Informationen zu versachlichen. Im Rahmen unserer unabhängigen Studie „Der ‚Wiener Weg‘: Weit mehr als die 365-Euro-Jahreskarte“ haben wir beispielsweise detailliert gezeigt, dass in der österreichischen Hauptstadt durch die tarifliche Maßnahme der verbilligten Jahreskarte nicht überdurchschnittlich viele neue Kundinnen und Kunden für den ÖPNV gewonnen werden konnten. Eine spürbare Stärkung des Modal-Split zugunsten des öffentlichen Verkehrs trat dagegen ein, als die Verantwortlichen zuvor über Jahre hinweg konsequent in ein attraktives Verkehrsangebot investiert hatten.

Das Beispiel Wien zeigt deutlich die Bedeutung der Angebotsqualität für den Modal-Split.

Parallel dazu wurden in Wien zusätzliche Finanzierungsquellen ausgebaut, indem beispielsweise die Arbeitgeberabgabe zugunsten der Öffis („U-Bahnsteuer“) und vor allem die Intensität der Parkraumbewirtschaftung deutlich erhöht wurden. Insgesamt haben dadurch die verkehrspolitischen Spielräume in der Donaumetropole in den letzten Jahren deutlich zugenommen – eine Erkenntnis, von der auch deutsche Städte lernen können.

In jedem Falle bedarf es aber regional passender Strategien und eines abgestimmten Vorgehens zwischen politischen Entscheidungsträgern, Aufgabenträgern, Verbünden und Verkehrsunternehmen, wie sich in ihren jeweiligen Räumen der ÖPNV am besten und vor allem nachhaltig stärken lässt. Eine „One-size-fits-all-Lösung“ kann es dagegen nicht geben, dafür sind die Verkehrsräume in Deutschland zu divers strukturiert. Wir unterstützen unsere Kunden daher mit einem bewusst ganzheitlichen Beratungsansatz, der auch die Einbeziehung der politischen Ebene aktiv mitdenkt und entsprechende Maßnahmen entwickelt.

Wie schätzt ihr die weitere Entwicklung von E-Scootern, Carsharing und Co. ein?

Stefan Weigele: Eine weitere wichtige Entwicklung des zu Ende gehenden Jahres war der Start der E-Scooter als neuer Verkehrsträger der Mikromobilität. Wir konnten diese Entwicklung sowohl mit Data Analytics als auch mit strategischen Beratungsprojekten von Anfang an begleiten.

Gleichzeitig mehren sich jedoch aktuell die Anzeichen, dass die „New-Mobility-Blase“ platzt und die Chancen und Hebel der neuen Verkehrsangebote auf ein realistischeres Maß zurechtgerückt werden. Im Sinne eines Hype Cycles ist das eine völlig normale Entwicklung.

Viele New-Mobility-Anbieter sind als Uber-Herausforderer gestartet und werden als ÖPNV-Zulieferer enden. Das bedeutet, dass die meisten New-Mobility-Geschäftsmodelle neu gedacht werden müssen. In Zukunft werden diese ergänzenden Mobilitätsdienstleistungen selektiv von der öffentlichen Hand bestellt, um den ÖPNV ganz gezielt zu ergänzen.

Subventionstöpfe statt Venture Capital – muss sich die New Mobility neu erfinden?

Warum viele Anbieter tatsächlich erwartet haben, dass sie im urbanen Mobilitätsmarkt eine Verkehrswende bewirken und dabei auch noch hohe Margen erzielen, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Ein fundierterer Blick vieler Investoren auf die geringen Kostendeckungsgrade des öffentlichen Verkehrs und die teils prekären Beschäftigungsverhältnisse in der Taxibranche hätten hier vermutlich helfen können, deutlich weniger Geld zu verbrennen.

Künftig wird es also vielmehr darum gehen, welcher Anbieter wie viel von den Subventionstöpfen abgreift. Das Rennen wird spannend, und ich hoffe, dass es nicht zu Lasten der dringend erforderlichen, massiven Aufwertung des klassischen öffentlichen Verkehrs geht. Denn ansonsten hätten wir am Ende nur viele bunte Schaufenster-Mobilitätsangebote, aber fürs Klima wäre nichts gewonnen.